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Landesjournal Niedersachsen September 2004 - SPARORGIEN / SOZIALABBAU: Gestreckter Galopp ins 19. Jahrhundert?

Massive Einkommensverluste bescheren Frust und Zukunftsängste; Vertrags- und Sozialbedingungen werden im Wochentakt verschlechtert





Es reicht: Polizeibeschäftigte demonstrierten am 6. August 2004 gegen die anhaltenden Verschlechterungen der Bedingungen im Sozial-, Besoldungs- und Versorgungsbereich. Erstmals traten GdP DPolG und BDK gemeinsam auf. Es wird nicht die letzte Aktion gewesen sein, die von den Polizeibeschäftigten in Niedersachsen zu sehen war. Foto: UR


Noch nie war es als Polizeibeschäftigter so gefährlich, die Zeitung morgens aufzuschlagen! Der Gesundheitszustand kann sich beim Lesen rapide verschlechtern. Inzwischen im Wochentakt bauen Wirtschaftsfunktionäre und Politiker auf den Abstumpfungseffekt bei immer neuen Forderungsmeldungen. Dramatische Einschnitte und abenteuerlichste Ideen und Vorstöße wie die „42- oder 50-Stunden-Woche“, „Lebensarbeitszeitverlängerung“, „einwöchige Urlaubsreduzierung“, „Urlaubs- und Weihnachtsgeldstreichung“, Reduzierung von Feiertagen, Abschaffung des Kündigungsschutzes, Stoppen des Bildungsurlaubs und ähnliches sind eklatante Griffe in die Privatfinanzen und Lebensplanungen von Beschäftigten. Alle Dämme scheinen gebrochen zu sein. Jeder kann mitmachen im Verkündungswettbewerb der „angesagtesten Horrorforderungen“.

      Dämme sind gebrochen
Bei solcherlei „Reformen“ ist man sich – zumindest für den öffentlichen Dienst - zudem des Beifalls traditioneller wie potenzieller „Beamtenhasser“ sicher, die im übrigen nicht selten die Arbeiter und Angestellten des öD in diesen Kreis gleich einbeziehen.

Angesichts dieser immer dreister und verstiegenerer Forderungen von Wirtschaftsfunktionären und Politikern nach immer neuen wirtschaftlichen Rückschritten für Rentner, Arbeitslose oder Beschäftigte – gleichgültig ob Wirtschaft oder öffentlicher Dienst - drängt sich mir ein Verdacht auf: Sind wir bereits galoppierend auf dem Weg in das 19. Jahrhundert?

Zur Erläuterung: Damals schufteten die Menschen oft bis zum gesundheitlichen Kollaps. Man wurde auch nicht sehr alt. (1) >>
Die Bismarck’schen Sozialsicherungen (2) >> linderten zwar das Gröbste, es war aber lange Zeit noch kein Zuckerschlecken, zur arbeitenden Bevölkerung zu gehören. Auch damals schon gab es einige wenige Gewinn(l)er die alles hatten. Erst in den 1950er Jahren - in Zeiten der Kriegsschädenbeseitigung - gelang es, den Samstag als arbeitsfreien Tag zu gewinnen. Samstag gehört Vati mir“ titelten die Gewerkschaften erfolgreich.
(3) >>
Die Löhne stiegen - wie der Lebensstandard. Und doch konnten diese sozialen Errungenschaften den boomenden Aufschwung nicht aufhalten!

      Sozialstaat als Irrweg?
Und heute? Inzwischen werden diese Errungenschaften für eine höhere Lebensqualität als Irrweg deklariert. Obwohl die Produktivität der Wirtschaft noch nie so hoch und der Dienstleistungsstandard noch nie so ausgebaut war wie heute: Der „soziale Ausruh- und Wohlfühlstaat“ habe sich nicht bewährt, solche und ähnlich strapazierte Terminologien las man in vielen Zeitungen in den vergangenen Wochen. Politiker aller Couleur und Wirtschaftskapitäne behaupten, der Sozialstaat habe eine tief greifende Reform nötig. Am vorlautesten engagieren sich die Chefs der Industrie- und Arbeitgeberverbände, während kürzlich die meisten Vorstände von Dax-Unternehmen in der Art von Geheimpakten Stillschweigen über ihre Bezüge vereinbart haben. Gibt es hier etwas zu verbergen? Keiner dieser Mächtigen erwähnt, dass diese Reform nur ein Streichkonzert zu Lasten derer ist, die immer ohne Macht ausgestattet waren und nichts für das Missmanagement können.

      Lasten gerecht verteilt?
Verschwiegen wird auch, dass das finanzielle Desaster in Sozialkassen und Staatshaushalten die politisch Verantwortlichen in fast 60 Jahren Nachkriegszeit selbst verursacht haben. Fehlsubventionierungen und fremdgenutzte, unzulässige Griffe in die Sozialversicherungstöpfe sind zu regulärer Politik geworden und werden nicht mehr thematisiert.
Der öffentliche Dienst, Jahrzehnte lang hinter dem Einkommensniveau der gewerblichen Wirtschaft herhinkend, und um seinen Versorgungsfonds seit 1949 betrogen, wird stattdessen seit einigen Jahren nach der Salamitaktik erneut und auf dreisteste Art zur Kasse gebeten, um den öffentlichen Dienst wieder „bezahlbar zu machen“. Dieser Weg scheint für Politiker einfacher zu sein.

      Verwaltungsmodernisierung professionell?
Keine Frage: das Wasser steht dem Staat bis zum Hals. Die einzig angemessene Methode, nämlich durch systematische Aufgabenkritik, Ziel- und Ergebnisorientierung sowie professionelles Management die wahren Verschwendungen im Haushalt auszumachen und auch so die Kuh vom Eis zu holen, vermag diese Landesregierung nicht anzuwenden. Die Verwaltungsmodernisierung – immer noch fälschlich als Reform betitelt – verkommt zu einem kosmetischen Unterfangen:
    • Türschildaustausch am 1.1.2005 durch Abschaffung der Bündelungsbehörde Bezirksregierung und stattdessen
    • Schaffung einer Reihe von Fachbehörden, denen koordinatorisches Arbeiten schon aufgrund ihrer Aufgabenspezialisierung fremd sein dürfte
    • ein Umorganisieren mit zudem teils sinnlosen Standortumzügen auf dem Rücken der Beschäftigten
    • Stelleneinsparungen aufgrund teils nur vermeintlich erzielbarer Synergieeffekte.
    • Beamtenanwärter, die gnadenlos in die Arbeitslosigkeit entlassen werden. Die Jugendarbeitslosigkeit lässt grüßen.

Mittlerweile kommen die Einschläge im Wochentakt. Und leider lässt nichts darauf schließen, dass die Rotstiftorgie ihr Ende findet.

Ein Kollege der Feuerwehr machte letztens etwas bitter den Verbesserungsvorschlag, Weihnachten ganz abzuschaffen, um nicht nur das Weihnachtsgeld zu sparen, sondern gleich die angestrebte Erhöhung der Wochenarbeitszeit nebenbei zu erledigen.
Wie lange glaubt eine Landesregierung, die im öffentlichen Dienst stehenden, und für die öffentliche Sicherheit garantierenden, verlässlichen Kolleginnen und Kollegen noch die Rechnung bezahlen lassen zu können, deren Bestellungen diese nie aufgegeben haben?

      Sicherer Arbeitsplatz?
Aber es kommt noch schlimmer. Galt der öffentliche Dienst doch immer als Hort des sicheren Auskommens, weil die Unkündbarkeit ein Fakt, wenn auch der einzige Neidfaktor war, so wird neben den genannten Zumutbarkeiten auch dieser Status zunehmend in Frage gestellt. Der Vorsitzende der FDP-Landtagsfraktion, Dr. Philipp Rösler, schloss derweil betriebsbedingte Kündigungen für den öD nicht von vornherein aus. (4) >> Die Entscheidungen müssten „nach Vorlage der Sparlisten der Ministerien getroffen werden“. Die Unternehmerverbände Nds. spielen – wenig überraschend - auf demselben Klavier. Anfang August ließ auch Finanzminister Möllring die Katze aus dem Sack und schloss betriebsbedingte Kündigungen für die Landesverwaltung nicht mehr aus. (5) >>

        Eigenheim als Luxus?
    Die nächste Attacke auf die Portemonnaies der Beschäftigten kommt aber aus Berlin: Wer glaubt, dass durch die komplette Streichung der gerade gekürzten Eigenheimzulage die Wirtschaft in Schwung gebracht werden kann, der muss sich nicht wundern, wenn sich untere und mittlere Einkommensschichten diese kostspielige Lebensinvestition nicht mehr leisten können und damit die Bauindustrie deutlich schwächen. Das trifft nun auch besonders den öffentlichen Dienst nach den beschriebenen Einkommensverlusten.

        Alternativen?
    Wo aber bleiben die politischen Maßnahmen, die das Geld dort holen, wo es wirklich übrig wäre? Wo sind die maßgeblichen Beiträge bei Millionärseinkommen in vergleichbarer Schmerzhaftigkeit wie bei den „Kleinen“? Wo bleiben andere Einnahmemöglichkeiten, die keine Notstände auslösen, wie z.B. Vermögens- und Erbschaftssteuer? (6) >> Wo bleiben die notwendigen Steuerfahnder und verstärkten Betriebsprüfungen, um Steuerbetrug und Subventionsbetrug effizienter zu verfolgen? Steuergeschenke an die Wirtschaft scheinen noch immer eine heilige Kuh zu sein.

    Wer sich als Politiker zudem über ernsthafte Warnungen unseres GdP-Bundesvorsitzenden Konrad Freiberg echauffiert, hat weder den Blick für Not noch Gespür für Maßstäbe bewiesen. Der GdP-Chef hatte angesichts immer enger werdender Budgets für Arbeitslose und andere „kleine Leute“ deren Not als Gefahr für die innere Sicherheit gesehen, nicht zuletzt durch die zunehmende soziale Spaltung der Gesellschaft, die durch die Arbeitsmarktreform gefördert wird. Politiker, die diese Warnnungen nicht wahrhaben wollen, handeln nach dem Motto „haltet den Dieb“ und halten dabei noch „die Lunte in der Hand“.

        Soziales Gewissen?
    Das soziale Gewissen kommt aus der Mode. Nur karitative und Sozialverbände sowie Gewerkschaften wagen es noch, soziale Gerechtigkeit einzufordern. Alle anderen stimmen schon ein in das Hohelied angeblich unumgänglicher, globaler, marktwirtschaftlicher Notwendigkeiten. Potenzielle Opfer ergeben sich scheinbar bereitwillig ihrem Schicksal.

    Es wird Zeit im allgemeinen Strudel brechender Dämme, nicht mehr alles hinzunehmen: Das soziale Gewissen sollte noch niemandem fremd sein, sonst sind wir schon angekommen - im 19. Jahrhundert.


    Fußnoten:

    (1) Am 4. bis 6.Juni 1844 zeigte der Aufstand schlesischer Weber, wie verzweifelt die verarmte Arbeiterschicht in Deutschland damals war. Eine intensive Diskussion über die "Soziale Frage" wurde damals ausgelöst. Die Industrialisierung sorgte zwar für wirtschaftlichen Aufschwung aber auch für neue, vor allem gesundheitliche, Probleme der Arbeitnehmer. Durchschnittlich 82 Wochenstunden waren in vielen Branchen üblich.

    (2) Graf Otto von Bismarck, 1815 bis 1898, war Gründer und erster Kanzler des Deutschen Reiches und Reichskanzler von 1871 bis 1890. Im Rahmen der Sozialgesetzgebung entstand unter ihm die deutsche Sozialversicherung. Es war das erste umfassende Gesetzeswerk der Welt zur Absicherung der Arbeitnehmer. Die einzelnen Gesetzesinitiativen waren:
    1883 Krankenversicherung
    1884 Unfallversicherung
    1889 Invaliditäts- und Altersversicherung für Arbeiter
    Diese 3 Gesetze wurden zur Reichsversicherungsordnung (RVO) vom 31.Mai 1911 zusammengefasst.

    (3)Vor 52 Jahren, am 1. Mai 1952 war die 6-Tage-Woche die Regel. Gewerkschaften forderten eine Arbeitszeitverkürzung mit einem Slogan des legendären 1. Mai Plakats : Ein kleiner blonder Junge meldete sich mit erhobenem Arm zu Wort "Samstag gehört Vati mir".

    (4) 3.7.2004 in einem Interview mit der Neuen OZ

    (5) HAZ-Artikel vom 09.08.2004: "Der Rechnungshof hadert mit der Verwaltungsreform. Vielen Führungsleuten der Prüfbehörde gehen die Personalkürzungen nicht weit genug..."

    (6) Nach einer Studie vom 2.9.2002 des Baseler Prognos-Institut im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung betrug das Nettovermögen aller deutschen Privathaushalte 4,2 Billionen Euro. Wichtigster Faktor für den Vermögensaufbau war das Sparen, gefolgt von den Wertsteigerungen bei Immobilien und Aktien. Zunehmend wuchs das Vermögen durch Erbschaften. Das Prognos-Institut geht davon aus, dass die Durchschnittsvermögen in einigen Jahren deutlich höher liegen werden als heute.
    vgl. Financialtime Deutschland www.ftd.de

    UR/Red.



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