Hermann Lutz
Bundesvorsitzender von 1986–1998
Das DP-Videointerview ist für 10:00 Uhr anberaumt. Hermann Lutz ist überpünktlich. Er sitzt gut gelaunt im sonnendurchfluteten Besprechungsraum der GdP-Rheinland-Pfalz in Mainz. Der fast 87-Jährige wirkt nicht nur so agil wie eh und je, er ist es auch. Seinen politischen Kopf hat er über die Jahrzehnte gut gepflegt. Die athletische Gestik unterstützt seine klaren, meinungsfesten Antworten. Der ehemalige GdP-Bundesvorsitzende über gefälschte Pässe, hupenden Gegenverkehr und das Republikaner-Spalier-Laufen.

Mitte der 1980er-Jahre: An seinem ersten Tag als Vorsitzender sei er durch die Hildener Bundesgeschäftsstelle gegangen und habe sich einfach nur gefreut, erzählt er lachend. Ein Unbekannter war er dort längst nicht mehr. 1981 hatte der Gewerkschaftsbeirat den Gau-Algesheimer bereits zum stellvertretenden Bundesvorsitzenden erkoren. „Für mich war das damals wirklich ein absoluter Neubeginn. Nun, ich war Polizist. Und dann wurde mir übermittelt, hör mal her, wir haben niemanden, der Soziales und Tarifpolitik macht. Ich? Als Beamter? Dazu kam noch die Zuständigkeit für die Frauen in der Polizei. Zu der Zeit ein heikles, wenn nicht gar Tabuthema. Es gab schon einige bei der Kripo, in meiner Schutzpolizei jedoch kaum.“
Es war seine zugewandte Art, die ihn mit den Menschen in seinem beruflichen Umfeld freundlich und ordentlich umgehen ließ, sagt er. Dazu ist er auch in die Poststelle oder zum Empfang gegangen. „Guten Morgen, dann bin ich auf einen Kaffee-Halt geblieben und habe zugehört. Ich wollte wissen, wo vielleicht Probleme sind.“ Dafür bekommt er noch heute positive Rückmeldungen. Das Leben sei keine Einbahnstraße, fügt er hinzu.
Als gebürtigen Erfurter hatte ihn lange die deutsche Teilung beschäftigt. Neben dem kurzen Aufenthalt in frühesten Kindertagen hatte er zu DDR-Zeiten nur einmal die Gelegenheit, dorthin zurückzukehren. Dies allerdings mit nicht ganz lauteren Mitteln, verrät er. Hilfreich sei sein guter Kontakt zum damals amtierenden Mainzer Oberbürgermeister, „Jockel“ Fuchs, gewesen. Die Landeshauptstadt pflegte eine Partnerschaft mit der für die steinerne „Krämerbrücke“ bekannten Thüringer Kapitale. Gegenseitige Besuche gehörten natürlich dazu. „Ich fragte einfach, ob ich mal mitkommen könnte. Jockel sagte sofort, das machen wir.“ Kollege Lutz war jedoch inkognito unterwegs. „Hermann, du kriegst einen Ausweis ausgestellt, deinen Vornamen lassen wir, dein Nachname wird geändert.“ Und dann ging es schon mit dem Bus nach Erfurt. „Mit mir an Bord und einem gefälschten Pass.“ Der erhoffte Besuch seines Geburtshauses blieb ihm leider verwehrt. „Ich hätte nicht erklären können, was ich dort mache. So blieb ich Teil der Mainzer Delegation und unter der Aufsicht von Personen, die darauf aufpassten, dass wir auch immer sicher nach Hause kommen.“ Der Vollständigkeit halber: Den Pass hat er wieder abgegeben.
„Von Tarif hatte ich damals keine blasse Ahnung. Der Hauptamtliche auf der Bundesgeschäftsstelle hat mir die Unterlagen zusammengepackt. Das habe ich alles mit nach Hause genommen und mich ungefähr sechs bis acht Wochen lang in die Tarifpolitik und das Drumherum eingelesen. Dann ging es nach Stuttgart zu den Tarifverhandlungen.“ Lutz zögert einen Moment und wird nachdenklich. „Dort ist mir das erste Mal wirklich bewusst geworden, dass Arbeitgeber eben Arbeitgeber sind. Egal, wer den Vorsitz hatte, ob das ein Christdemokrat, ein liberaler Innenminister oder ein Sozialdemokrat war. Unsere Verhandlungspartner standen geschlossen in einer Reihe. Wir in der Polizei leider nicht.“ Er verstehe bis heute nicht, warum zwei Polizeigewerkschaften und der Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK) nebeneinander existieren müssen.
So klingt es ein bisschen wie das anrührend gute Ende eines mit Irrungen und Wendungen prallen Liebesromans, wenn sich der ehemalige GdP-Chef die gewerkschaftliche Einheit in der Polizei wünscht. „Uns sollte die Einsicht dahin führen, dass wir stärker sind, wenn wir geschlossen auftreten.“ Schließlich profitiere vornehmlich die andere Seite von der gewerkschaftlichen Fragmentierung der Polizeibeschäftigten. Die Frage nach der Nummer 1 im Polizeibereich stelle sich jedoch nicht, schmunzelt er und unterstützt seine Aussage mit weit schwingenden Armen.

Ende 1989 fiel die Mauer. Lutz fuhr von einer Veranstaltung in Schleswig-Holstein zurück Richtung Rheinland-Pfalz. „Wir waren dort wie in einer Außenwelt. Als mir dann hupende Autos entgegenkamen, schaltete ich das Radio an.“ Und dem Thüringer Bub schossen unmittelbar Tränen in die Augen.
Der Polizeibeamte hatte sich aus Interesse zuvor mit dem Marxismus-Leninismus beschäftigt. „Das führte dazu, dass mich sogar der Verfassungsschutz mal im Auge hatte“, lächelt er. Offensichtlich hatten sich keine konkreten Verdachtsmomente ergeben.
„Die Menschen in der DDR hatten von 1933 bis 1989 durchgehend eine Diktatur erlebt. Wir mussten also in der Wendezeit Ausschau nach denen halten, die getreu Lenin handeln würden: Verlieren wir unser System, machen wir uns zur Speerspitze der Gegenbewegung, um dann wieder unsere alten Strukturen herzustellen.“
Bei den vielen Veranstaltungen, die er in der Folge in den östlichen Ländern absolviert hatte, waren ihm viele Menschen aufgefallen, die sofort mitmachen wollten. „Und das hat dazu geführt, dass ich damals mit der sogenannten Gauck-Behörde die Vereinbarung getroffen habe, ohne Wartezeit Akteneinsicht nehmen zu können. In vier der fünf Länder waren die Vorsitzenden der GdP Mitarbeiter der Stasi. Diese haben wir mit unseren Erkenntnissen konfrontiert, worauf sie zurückgetreten sind.“
In anderen Fällen sei es nachvollziehbar und beweisbar gewesen, dass Kollegen trotz ihrer Stasi-Tätigkeit niemandem schadeten. Diese hatten ihre Führungspersonen bewusst belogen und zum Beispiel übermittelt, dass auf der Stube weder Westfernsehen geschaut noch Witze über das politische System gemacht worden waren. „Und dann habe ich mich für diese Menschen eingesetzt.“
Thema Rechtsextremismus: Lutz selbst ist in den Anfängen seiner Polizeilaufbahn noch „durch die Hände ehemaliger Nazi-Offiziere“ gegangen. Da habe er schnell bemerkt, mit welch boshaften Methoden diese arbeiteten. „Ja, das hat mich schon geprägt“, denkt er zurück. Als dann später „Die Republikaner“ bekannt wurden, ließ er von der Hildener GdP-Bundesgeschäftsstelle eine Analyse über diese aufstrebende Partei anfertigen. Man merkt ihm die Genugtuung darüber an. „Wir haben das Parteiprogramm und die Ausführungsbestimmungen auf unterschiedlichen Ebenen mit den braunen Grundsätzen verglichen und stellten fest, dass rund 70 Prozent der Ideen des damaligen Parteivorsitzenden Franz Schönhuber und seiner Parteifreunde mit Naziideologien übereinstimmten. Unser Papier habe ich dann an die Frankfurter Rundschau weitergegeben.“ Die Tageszeitung veröffentlichte eine komplette Seite. Es geriet etwas in Gang. In etwa 30 bundesweiten, viel beachteten Veranstaltungen hatte Lutz die „REP“-Studie ausgeführt und die nun offengelegten Absichten der Partei schonungslos in den Fokus gerückt.
Wenig überraschend geriet die GdP, und vor allem ihr Vorsitzender, ins Fadenkreuz der polarisierenden Partei. „Teils wurden wir vor unseren Veranstaltungen von den Republikanern mit einem Spalier empfangen.“ Und was er an „Meinungen“ in seinem Briefkasten gefunden hatte, könne er, höflich ausgedrückt, nur als widerwärtig bezeichnen. „Wenn sich gesellschaftliche Veränderungen ereignen, die mit unserem Werteverständnis schlicht und einfach nicht im Einklang stehen, muss man den Mut besitzen, den Finger in die Wunde zu legen. Das ist für mich normal.“
Extremisten, egal auf welcher Seite, seien nie ein Gewinn für die Menschen, betont er mit kräftiger Unterstützung seiner Arme und wirbt dafür, die inhaltliche Auseinandersetzung „mit diesen Leuten“ zu suchen. Parteiverbote? Die brächten nichts, zeigt sich Lutz überzeugt. Innerhalb kürzester Zeit wären die unter einem anderen Namen wieder auf der Bildfläche und das Problem wieder da.
Nach seiner Zeit an der GdP-Spitze führte Lutz weiterhin die Internationale Union der Polizeigewerkschaften (UISP), später EuroCOP, an. „Es gibt Menschen, die tatsächlich auch heute noch glauben, dass wir als Nationalstaat allein leben können. Das ist eine reine Illusion.“ Und was die europäische Zusammenarbeit angeht, sei genau diese ein zwingendes Gebot. „Kriminelle sind heute mobiler und gewissermaßen grenzenlos unterwegs. Sie nutzen moderne Technik wie KI und manipulieren durch Fake News. Das alles können wir allein nicht mehr ausreichend bearbeiten. Dazu benötigen wir Partner außerhalb unserer Nationalstaatlichkeit.“
Zuletzt die Gretchen-Frage: „Würdest du heute noch einmal das Ruder des Vorsitzenden übernehmen wollen? Ja oder Nein?“ Lutz antwortet wie ein echter Diplomat. „Jede und jeder haben ihre Zeit der Verantwortung: Und die sollen sie auch ganz und gar wahrnehmen. Nachdem meine Zeit als Vorsitzender vorbei gewesen war, hielt ich mich an meinen Maßstab, mich nicht mehr in Dinge einzumischen, bei denen andere in der Pflicht standen.“ Das müsse jede Generation schon für sich selbst erledigen, „und da sollten wir Alten uns auch mal zurückhalten.“