Norbert Spinrath
Bundesvorsitzender von 1998–2000

Allen terminlichen Widrigkeiten zum Trotz sitzt Norbert Spinrath vor dem Aufnahmegerät. Der Kreis-Heinsberger ist Ende Juli auf Stippvisite im regnerischen Berlin. Durch seinen Besuch in der Bundesgeschäftsstelle schließt er die noch verbleibende DP-Interviewlücke mit den ehemaligen Bundesvorsitzenden der Gewerkschaft der Polizei (GdP). Ein Gespräch über heikle Halbsätze, gute Drähte und regnerische Autofahrten.
Mitte September 1998 wurde Norbert Spinrath in Bremen zum GdP-Bundesvorsitzenden und damit zum Nachfolger von Hermann Lutz gewählt. „Auf diesen Tag habe ich natürlich hingearbeitet. Die Bundesgeschäftsstelle und mein Vorgänger unterstützten mich optimal. Dennoch, die Anspannung war da“, erzählt der heute 67-Jährige. Tief eingeprägt hat sich bei ihm das große Medieninteresse an seiner Person. „Am Tag vor dem Bundeskongress bin ich mit einem Team des übertragenden TV-Senders „phoenix“ durch den Saal gegangen. Später, im Laufe des Delegiertenkongresses, folgten eine Pressekonferenz, Einzelinterviews mit Zeitungen, Radio- und Fernsehsendern, teils in deren Studios. Alle wollten plötzlich wissen, wie ich zu diesem oder jenem stehe.“ Er empfand das als Höchstbelastung, sagt er und lehnt sich nach vorn. Doch habe sich diese als positiver Stress erwiesen, ergänzt Spinrath. Schnell wurde ihm klar, dass das neue Amt eiserne Regeln mit sich bringt. Zum Beispiel auf das gesprochene Wort zu achten. Zumindest in einem Fall tat er dies nicht konzentriert genug, merkt er an und berichtet über eine aus seiner Sicht bittere Erfahrung. „Es ging um einen aufsehenerregenden Raubmord an einem Hamburger Ladenbesitzer. Die Täter waren nicht strafmündig. Ein Privatsender interviewte mich irgendwo, als ich für die GdP unterwegs war. Eine Aufzeichnung für die Nachtsendung. Thematisch handelte es sich um die Frage einer Verschärfung des Jugendstrafrechts. Obwohl man mir suggestiv eine andere Position nahezulegen versuchte, bin ich unserer GdP-Linie treu geblieben. Ich habe jedoch noch einen Halbsatz gesagt, den man hätte umdeuten können.“ Was dann auch geschah. Denn die Redaktion hat sich auf diese Worte gestürzt und dann über die Bildschirme behauptet, die GdP habe den Kurs gewechselt. „Ich habe dann erst einmal Anfragen des Senders geblockt. Lediglich Live-Situationen habe ich zugestimmt. Da ist mir sehr bewusst geworden, dass man jedes Wort abwägen muss. Dass jeder Argumentationsstrang wirklich sitzen und man darauf achten muss, dass man nicht falsch geschnitten werden kann.“
Atommülltransporte waren eines der bestimmenden Themen seiner Zeit als GdP-Chef. „Im zeitlichen Rahmen der Vorbereitung der Castor-Transporte suchten Hermann Lutz und ich noch als sein Stellvertreter das Gespräch mit der damaligen Bundesumweltministerin, Dr. Angela Merkel. Wir trafen uns in Bonn und verdeutlichten, dass die GdP unter anderem einen ausreichenden Strahlenschutz für die Begleitkräfte fordert. Wir haben uns in Sachen Fürsorge stark gemacht.“ Die Ministerin hat jedoch, erinnert Spinrath, die Bedenken und Forderungen brüsk zurückgewiesen. „Daraufhin haben wir ihr mit einer Klage gedroht, um den ersten Transport zu verhindern.“
Mit Spinraths Amtsantritt startete auch eine neue Bundesregierung. Die Kohl-Ära war vorbei. Der Umweltminister der rot-grünen Regierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder hieß Jürgen Trittin. Ein Grüner, der mit großem Selbst- und Sendungsbewusstsein ausgestattet keinem Streit aus dem Weg ging. „Mittlerweile hatten wir die Klage eingereicht. So war es möglich, mit einem kleinen Vorsprung in die Verhandlungen zu gehen. Trittin leistete wenig Widerstand und wir rangen ihm unter anderem Vorbereitungsseminare ab. Unseren Maßnahmenkatalog konnten wir ebenfalls weitgehend durchsetzen.“ Der Grünenpolitiker habe rasch verstanden, dass er ohne die Polizei nichts werde erreichen können. Und Spinrath lernte, dass ein schärferer Ton zur rechten Zeit hilft, Dinge durchzusetzen und sogar stabile Arbeitsbeziehungen aufbauen kann.
Das Jahr 2000 ist vor allem lebensälteren Kolleginnen und Kollegen noch in trauriger Erinnerung. Acht Polizistenmorde erschütterten die Kollegenschaft. „Die Diskussion über die Gewalt gegenüber der Polizei führten wir bereits zuvor. Auch hatten wir den Kontakt zu Prof. Christian Pfeiffer, Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN), geknüpft. Dort wurde in unserem Auftrag eine Vorstudie gemacht. Angesichts der schlimmen Ereignisse habe ich den guten Draht zum damaligen Innenminister Nordrhein-Westfalens, Dr. Fritz Behrens, genutzt, um das Thema zu befeuern.“ Behrens saß in diesem Jahr der Innenministerkonferenz vor. Und so gelang es, erstmalig als Team IMK/GdP zu agieren und eine KFN-Hauptstudie zu beauftragen. Doch Spinrath zieht seine Stirn in Falten. „Obwohl viele Maßnahmen zur Gewaltprävention aus dieser Studie heraus ergriffen wurden, etwa die persönliche Ausrüstung mit Schutzwesten, und die GdP nach langem Kampf die Einführung des Paragrafen 114 ins Strafgesetzbuch gebracht hat, ist die Gewalt gegen unsere Kolleginnen und Kollegen weiterhin virulent und wird eher schlimmer als besser. Das heißt, wir als GdP haben noch viel zu tun.“
An dieser Stelle erwähnt Spinrath den fundamentalen Beitrag des damaligen, vor Jahren verstorbenen GdP-Bundesgeschäftsführers Wolfgang Dicke für eine bessere Eigensicherung. „Wolfgang war ein allerseits geschätzter Waffenexperte. Er hat maßgeblich daran mitgewirkt, dass die Polizeien mit sogenannter mannstoppender Munition ausgerüstet wurden.“
Debatten für die GdP führte Spinrath ebenso zu den Themen Einsatz der Bundeswehr im Innern, der Teilprivatisierung von Polizeiaufgaben und gemeinsamen Dienststellen an den Landesgrenzen. „Da konnten wir Bundesinnenminister Dr. Wolfgang Schäuble mit seinen Bundeswehrplänen in die Schranken weisen. Im Hinblick auf die Teilprivatisierung bin ich bei einer Anhörung sehr deutlich geworden. Mir wurde später bescheinigt, die innerhalb der Innenministerkonferenz fortgeschrittene Diskussion – es war übrigens ein Hamburger Vorschlag – beendet zu haben.“ Mit dem damaligen Vorsitzenden der niederländischen Polizeivereinigung (NPB), Hans van Duijn, hatte er an einem Abend gemeinsame Dienststellen an den EU-Binnengrenzen ausgetüftelt. „Es solltedas Prinzip der zusammengeschobenen Schreibtische gelten, wie es im baden-württembergischen Kehl später erstmals praktiziert wurde und mittlerweile in Gemeinsamen Zentren an vielen europäischen Binnengrenzen Normalität ist.“
Der Beginn des zweiten Millenniums hatte jedoch auch fröhlich-feierliche Momente. Zumindest aus der Perspektive der GdP. Die Gewerkschaft beging ihren 50. Geburtstag, und dies in der Stadt ihrer Gründung. „Wir haben lange gebraucht, um die Genehmigung für die Veranstaltung im ehrwürdigen Hamburger Rathaus zu erhalten. Uns kam zugute, dass mit Ortwin Runde ein SPD-Politiker mit Sympathien für Gewerkschaften als Erster Bürgermeister regierte. Das zweite Highlight war der dortige Besuch von Bundeskanzler Schröder.“ Spinrath schmunzelt und verrät, dass er den Kanzler während einer Autofahrt überredet hatte, als Ehrengast zu erscheinen. „Wir hatten ein paar Monate zuvor zunächst einen gemeinsamen Termin bei der EXPO in Hannover, dann noch einen weiteren, an anderem Ort im Anschluss. Plötzlich schüttete es aus allen Kübeln und ich wurde in den gepanzerten Kanzler-Dienstwagen eingeladen, um trockenen Fußes zu bleiben. Diese Gelegenheit konnte ich nicht ungenutzt verstreichen lassen.“
Im Rathaus musste ein Sammelsurium an protokollarischen Vorschriften beachtet werden, führt Spinrath fort. „Ich hatte auf der ersten Stufe der beeindruckenden Treppe im Eingangsbereich auf den Kanzler zu warten. Währenddessen sammelten sich die TV-Teams zu einem Spalier. Begrüßung, Umdrehen, die Treppe hoch, das war der Plan. Und als Schröder dann kam, funktionierte alles, nur, dass er plötzlich den ersten Treppenaufgang hoch spurtete und ich kaum hinterherkam. Diese Stufen waren noch für die Kameras einsehbar. Kaum um die Kurve und für die Objektive unsichtbar hat er sein Anfangstempo jedoch deutlich eingebremst. Nun ja.“
Nach der Einladung in das Büro des Ersten Bürgermeisters sei es zu einem denkwürdigen, später publizierten Foto gekommen, lacht der Gewerkschafter. „Der DGB-Vorsitzende Dieter Schulte und der Bundeskanzler nahmen Platz, ich hatte meinen in der Mitte. Die Sonne strahlte durch das Fenster und die selbsttönende Brille, die ich damals trug, reagierte. Am Ende sah das Bild so aus, als sei es am Set des Films ‚Der Pate‘ geschossen worden. Man könnte auch sagen, ein wenig unvorteilhaft. Dabei unterstrich der Bundeskanzler mit seinem Besuch des GdP-Festakts die Bedeutsamkeit unseres gewerkschaftlichen Wirkens nicht nur für die Interessen unserer Kolleginnen und Kollegen, sondern auch unserer Beteiligung zu gesellschaftlichen Debatten zu Sicherheit und Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat und zur Kriminalprävention.“
Nachdem Spinrath sein Amt aus persönlichen Gründen verlassen hatte, stieg er wieder bei der Polizei ein. „Ich hatte für das Land NRW vier Jahre meine Ohren für Polizeiangelegenheiten bei der EU in Brüssel, dann habe ich noch einmal umgesattelt und eine Legislaturperiode als Abgeordneter im Bundestag absolviert.“ Auch dort habe er seine Europaaffinität nicht abgelegt, sondern als europapolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion weiter gepflegt. Am Schluss ging es wieder zurück in das NRW-Innenministerium zur internationalen Polizeizusammenarbeit mit Schwerpunkt Europa. „Ich hatte also das Privileg, an mehreren Orten und Ebenen Dinge als Gewerkschafter anschieben und dann als Beamter oder Bundestagsabgeordneter umsetzen zu können“, sagt er mit zufriedenem Unterton.
Welche berufliche Position, also GdP-Chef oder MdB, er denn in Anlehnung an Franz Münteferings Papst-Zitat schöner fand, lautet die letzte Frage. An diplomatischem Geschick kaum zu überbieten, erklärt Spinrath: „Beides ist von der Art völlig anders. Beides möchte ich nicht missen. Aber so nacheinander war das eine ganz gute Kombination.“
Und im Hinausgehen erzählt er, dass es zu seiner GdP-Zeit noch die Diskussion gegeben hatte, ob sich nicht die GdP als „Fachbereich 13“ der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) hätte anschließen wollen. Die GdP und Spinrath winkten ab, wollten unabhängig und wirkmächtig bleiben. Gut so. Bis heute.