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– Festvortrag – Prof. Dr. Dr. Udo Di Fabio, ehemaliger Richter am Bundesverfassungsgericht



Prof. Dr. jur. Dr. sc. pol. Udo Di Fabio, Universität Bonn

Thesen zum Vortrag:

Erosionen des Rechtsstaats?


1. Die Leitidee des Rechtsstaates richtet sich auf die Sicherung der Subjektstellung des einzelnen Menschen in einer stabilen Friedens- und Entfaltungsordnung. Staatliche Herrschaft wird so organisiert, dass der Einzelne nicht ohnmächtig einer imposant-überwältigenden Macht gegenübersteht, sondern sich artikulieren und in berechenbarer Weise verhalten und sich dabei als Persönlichkeit frei entfalten kann.

2. Der Rechtsstaat ist die stabile Ordnung der Freiheit in Achtung der Würde des Menschen. Ohne Rechtsstaat ist weder persönliche Freiheit in Sicherheit noch soziale Gerechtigkeit möglich.

3. Der moderne Staat ist Rechtsstaat, weil er auf der Grundlage des demokratisch erlassenen allgemeinen Gesetzes handelt und er das Gewaltmonopol für sich in legitimer, kontrolliert verfassungsgemäßer Weise beansprucht.

4. Zu den Elementen des Rechtsstaats zählen
  • die Gesetzesbindung der Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 GG),
  • die Verfassungsbindung der Gesetzgebung (Art. 20 Abs. 3 GG),
  • die Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG),
  • die Einrichtung unabhängiger Gerichte und eines effektiven Rechtsschutzes für die Bürger (Art. 19 Abs. 4, 92, 97 GG),
  • der Gesetzesvorbehalt für Grundrechtseingriffe und der Vorrang des Gesetzes,
  • der Vertrauensschutz und das Rückwirkungsverbot (Art. 103 Abs. 2 GG),
  • die Justizgrundrechte (Art. 101-104 GG),
  • ein demokratisch kontrollierter, rechtstreuer und praktisch wirksamer öffentlicher Dienst, der in seinem hoheitlichen Kernbereich durch Bedienstete in einem besonderen Treueverhältnis versehen wird (Art. 33 Abs. 2, Abs. 4 und Abs. 5 GG),
  • die staatliche Gewährleistung einer verlässlichen privatautonomen Ordnung auf der Grundlage der Werteordnung der Grundrechte,
  • der Schutz individueller wie öffentlicher Rechtsgüter durch eine effektive Strafrechtspflege
  • sowie allgemein die Gewährleistung von Gewaltfreiheit und Frieden durch den kontrollierten Einsatz des staatlichen Gewaltmonopols.
5. Der Rechtsstaat als unentbehrliche Institution von Freiheit und Selbstbestimmung verliert Wirkung, wenn einzelne Elemente geschwächt werden oder unter den Bürgern das Verständnis für die zugrunde liegende Idee schwindet.

6. Eine Schwächung einzelner Elemente kann man insbesondere diagnostizieren,
  • wenn die personelle und sachliche Mittelausstattung für die Kernbereiche des öffentlichen Dienstes unzureichend wird, also Polizei und Justiz die Gefahrenabwehr, die Strafverfolgung, den Straf-und Maßregelvollzug nicht mehr in allen Bereichen sicherstellen können (Ressourcendefizit),
  • wenn Beamte nicht mehr mit „Hingabe“ dem Gemeinwohl dienen (Motivationsdefizit),
  • wenn das Recht für eine effektive Gefahrenabwehr und Strafverfolgung zu starke Hürden aufbaut (Rechtssteuerungsdefizit),
  • wenn rechtlich nicht vollständig erreichbare oder sogar rechtsfreie Räume entstehen, wie dies teilweise im Netz in punkto Cyberkriminalität zu beklagen ist (Gebietsverluste des staatlichen Gewaltmonopols),
  • wenn das Gesetzesrecht im Mehrebenensystem in konsistenter und systematischer Weise durch professionelle Rechtsanwender in Verwaltung und Justiz nicht mehr effektiv und für den Bürger berechenbar wirksam ist (Defizite der Steuerungskraft des Gesetzes),
  • wenn die Achtung und der Respekt vor Amtsträgern in der Bevölkerung zurückgeht und Dienstherren ihre Fürsorgepflicht für öffentliche Bedienstete nicht hinreichend ernst nehmen (Reputationsdefizite),
  • wenn eine Gesellschaft sich sozial fragmentiert, die Grundlage einer freiheitlichen Werteordnung mit ihrem Friedlichkeits- und Toleranzprinzip nicht mehr selbstverständlich ist und in der Folge Ordnungsverluste und Absenkung von Gewaltschwellen zu beklagen sind (Fragmentierungsgefahren),
  • wenn ein kultureller Wandel stattfindet, der in grundlegender Weise sich gegen normative Verhaltenssteuerung und die Beachtung elementarer, d.h. für das soziale Zusammenleben unentbehrlicher Ordnungsregeln richtet (kulturelle Ordnungserosion).
7. Die Bundesrepublik Deutschland ist sowohl in historischer Perspektive als auch im internationalen Vergleich ein funktionsfähiger Rechtsstaat. In Teilbereichen sind allerdings Erosionstendenzen beobachtbar, denen stärker entgegenwirkt werden muss, zumal neue Konfliktpotenziale eher wachsen werden als abnehmen durch
  • zunehmende Mobilität,
  • Einwanderung aus heterogenen Kulturräumen,
  • die demographische Entwicklung (starke Alterung der Gesellschaft),
  • die Schwächung des Kernbereichs der Zivilgesellschaft (Familien, lokale und religiöse Gemeinschaften, Vereine)
  • und durch allgemeine Wertordnungs- und Maßstabsverluste.
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