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Nichts mit Manipulation und Vertuschung! Sie gerieten nach Amri-Anschlag in den Fokus - GdP-Kollegen brechen ihr Schweigen in der WELT

Erst der merkwürdige Auftritt von Innensenator Andreas Geisel, dann ein Bericht von Sonderermittler Bruno Jost, der einer Vorverurteilung glich. Unsere zwei GdP-Kollegen Tobias L. und Lars O. wurden in den letzten Monaten komplett durch den Kakao gezogen und sowohl der Innensenator als auch PPr Kandt oder LKA-Chef Steiof versäumten es, die Vorwürfe gegen die beiden Staatsschützer auszuräumen bzw. mal alles ins rechte Licht zu rücken. Wir hatten in den letzten Monaten sehr intensiven Kontakt und selbstverständlich haben wir die beiden Kollegen von Beginn an mental, aber auch juristisch unterstützt. In der heutigen WELT am Sonntag brechen sie ihr Schweigen.

"Berlin sucht einen SCHULDIGEN" von Michael Behrendt

Zwei Polizisten sollen Akten manipuliert und so eine frühe Festnahme des Attentäters Amri vereitelt haben – sagte der Innensenator und zeigte sie an. Die beiden erzählen eine ganz andere Geschichte.

Anis Amris Terrorangriff auf einen Weihnachtsmarkt in Berlin hat vieles verändert. Das Sicherheitsgefühl der Menschen. Das Leben der Freunde und Familien der zwölf Toten – und das zweier Berliner Staatsschutzpolizisten, die angeklagt werden, daran schuld zu sein, dass der Mörder nicht rechtzeitig verhaftet wurde. Im Mai 2017 erklärte Berlins Innensenator Andreas Geisel: „Eine Verhaftung“ des Mörders vom Weihnachtsmarkt sei „wohl möglich gewesen“. Amri hätte vor dem Anschlag möglicherweise in Untersuchungshaft genommen werden können – um dies zu vertuschen, sei die Akte später manipuliert worden. Im polizeiinternen Bericht über Amri, erstellt Wochen vor dem Anschlag, hätten Ermittler des Landeskriminalamtes (LKA) Berlin dem späteren Terroristen nämlich banden- und gewerbsmäßigen Handel mit Drogen attestiert. In einem rund einen Monat nach der Tat neu erstellten Bericht hingegen werde er nur noch als Kleindealer dargestellt.

Der Innensenator erstattete Strafanzeige gegen Polizeioberkommissar Tobias L. (38) und seinen Vorgesetzten, Kriminalkommissar Lars O. (45), obwohl der nur einen Bericht in dem ganzen Komplex abzeichnete. Die Staatsanwaltschaft leitete ein Ermittlungsverfahren gegen sie ein. Der Verdacht: Die Ermittler hätten versucht, im Nachhinein Amris Gefährlichkeit zu verniedlichen, um die eigene Untätigkeit zu rechtfertigen.

Der Sonderbeauftragte des Berliner Senats zum Fall Amri, Bruno Jost, resümiert im Oktober 2017, das Landeskriminalamt habe es verpasst, die vielen Erkenntnisse zu Amris Drogenhandel an die Staatsanwaltschaft zu übermitteln. Josts Fazit: „Es ist davon auszugehen, dass es bei rechtzeitiger und vollständiger Vorlage aller vorhandenen Ermittlungsergebnisse und Beweismittel zu Amris Drogenhandel zu der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens wegen gewerbsmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln ... gegen ihn gekommen wäre.“ Mittelfristig hätte dies die Chance eines Haftbefehls eröffnet.

Aber Jost urteilt vorsichtiger als Senator Geisel. Seine Erkenntnisse erlaubten „in keinem Fall die sichere Aussage, dass bei Unterlassungen der Fehler und Vornahme der Unterlassungen der Anschlag vom 19.12.2016 hätte verhindert werden können“. Was jedoch hängen bleibt, ist die schnöde Berliner Geschichte: Beamte wussten viel, taten wenig und schönten hinterher die Akten zu ihren Gunsten. Sie passt allzu gut ins Bild einer oft überforderten Berliner Polizei.

Aber vielleicht reagierte der Innensenator voreilig, und die beiden Polizisten werden zu Unrecht verdächtigt. Erstmals äußern sich die beiden Mitglieder der Gewerkschaft der Polizei (GdP) nun zu der Anklage. Sie formulieren mit Bedacht, ihr Anwalt ist beim Gespräch mit WELT AM SONNTAG dabei. „Wir sollen für etwas gehängt werden, das wir nicht zu verantworten haben“, sagen sie. „Das ist nicht fair, wir haben alles gegeben, um die polizeilichen Maßnahmen zu verlängern.“ Zwar hätten ihre Ermittlungen keine Anhaltspunkte für eine von Amri geplante Terrortat erbracht, aber sie seien dran geblieben und bei seiner Überwachung bis ans Limit des rechtlich Zulässigen gegangen. Doch der Reihe nach.

Am 18. Februar 2016, einen Monat vor dem Anschlag, wendet sich gegen 9.00 Uhr der Staatsschutz aus Düsseldorf an die Kollegen in Berlin. Ein Islamist sei unterwegs, er komme um 12.00 Uhr am Busbahnhof an. Erst am Tag zuvor wurde Amri in die Kategorie des Gefährders eingestuft. Die Kollegen aus NRW erbitten eine Observation. Ein Fall fürs MEK, das Mobile Einsatzkommando in Berlin. Wer nun glaubt, dies sei rasch verfügbar, irrt: Personalmangel aller Orten.

Tobias L. sagt, sie hätten in der Eile selbst gehandelt: „Wir sind für solche Observationen nicht ausgebildet, dafür gibt es eben diese Experten. Aber unsere Anforderung blieb ohne Erfolg, also blieb uns nichts weiter übrig, als Amri zu kontrollieren.“ Der steigt aus dem Bus, wird angesprochen – und hat falsche Papiere. Auf der Dienststelle werden seine Fingerabdrücke genommen.

Nach seiner Entlassung geht Amri in eine Moschee, dann reist er zurück nach Nordrhein-Westfalen. Auf dem Dienstweg erfahren die Berliner, der spätere Terrorist wolle nach Berlin ziehen. Und er sei gefährlich. Details erfahren sie aus NRW aber nicht. Was sie grob wissen: Amri versuche, Kalaschnikows für einen Anschlag in Deutschland zu besorgen.

Lars O. erzählt: „Unsere MEK-Kollegen, die ihn später immer wieder observierten, wollten natürlich wissen, welche Gefahr von dem Mann ausgeht, weil sie ja unmittelbar an ihm dran sind.“ Mitte März stellt der Staatsschutz in NRW fest, dass sich Amri auf seinem Handy Anleitungen zum Bombenbau angeschaut habe, ohne sie aber herunterzuladen – den Tatbestand einer „staatsgefährdenden Gewalttat“ erfüllt das nicht. All die abgehörten Telefonate geben offenbar keinen Hinweis auf einen Anschlag. „Es ging immer nur um Drogen im Kleinmengenbereich“, so Tobias L. Um Deals „in einschlägigen Clubs, schätzungsweise um Pillen wie Ecstasy“. Irgendwas mit Terror? Gar nichts.

Mitte Mai lernt Amri den wegen Drogendelikten inhaftiert gewesenen, frisch entlassenen Mohamad K. kennen. Der nimmt den späteren Massenmörder unter seine Fittiche, man zieht zusammen. Wieder observiert das MEK – wieder keine Indizien für einen Anschlag. Ende Juli sorgt sich Amri, die Polizei sei hinter ihm her. Am Telefon sagt er Mohamad K., er wolle via Bayern heim nach Tunesien. Daraus wird aber nichts. Am 11. Juli mischen Amri und K. bei einer wilden Schlägerei in einer Shisha-Bar mit. Wohl ein Streit unter Dealern. Details sind vorerst unklar. Dass Amri dabei war, erfahren die Polizisten lange nicht.
„Es hieß ja später, man hätte den Mann wegen der Schlägerei in einer Shisha-Bar aus dem Verkehr ziehen und somit den Anschlag verhindern können“, so Tobias L. „Aber wir wussten zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht, worum es ging.“

Im August 2016 laufen die Beschlüsse für die Abhörmaßnahmen aus – werden dann aber verlängert. Amri spricht nun vermehrt über Drogenschäfte. Also leitet man in Berlin ein getrenntes Drogenverfahren ein. „Ich habe dann deshalb beantragt und erreicht, dass wir einen Monat länger abhören und zwei Monate länger observieren lassen durften“, erzählt Tobias L. Die Idee: Amri doch noch inhaftieren zu können, um ihn später nach Tunesien abzuschieben. Tobias L. sagt, dass er eine junge Kollegin bat, alle Erkenntnisse aufzuschreiben, damit die Staatsanwaltschaft entscheiden könne, was sie anklage: Kleindealerei oder gewerbsmäßigen Drogenhandel. Ein alter Polizistentrick sollte dabei angewandt werden: Im Konjunktiv von möglichst heftigen Delikten sprechen, die durch weitere Maßnahmen noch belegt werden müssten. Doch die Kollegin habe sich den Konjunktiv gespart. So sei aus einer taktischen Übertreibung ein Realreport
geworden, den sie so im Polizeicomputer abgespeichert habe. Da stand nun eins zu eins, was so nicht wirklich ermittelt worden war: Es bestehe der Verdacht des „gewerbs- und bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln“.

Am 20. Oktober, als alle Amri-Telefonate aus dem Arabischen übersetzt sind, ergeht Strafanzeige wegen Drogenhandels gegen ihn. Doch nichts passiert. Am 19. Dezember dann rast Amri mit dem Laster in den Weihnachtsmarkt. Nun wird alles gesichtet, was man über ihn weiß. Im Nachgang, berichtet Tobias L., habe ihn die Staatsanwaltschaft aufgefordert, alle Fakten zum Drogenkomplex aufzuschreiben, denn Amris Verfahren wurde eingestellt. Er wurde in Italien erschossen, und gegen Tote wird nicht ermittelt.
Also habe er vorschriftsgemäß die Erkenntnisse über Amri und Mohamad K. getrennt und eingereicht, erzählt Tobias L. weiter. „In dem Abschlussverfahren habe ich dann die inzwischen belegbaren Fakten niedergeschrieben. Natürlich unterschieden die sich von denen aus dem aufgeblähten Bericht der Kollegin, mit dem wir ja nur mit Konjunktiv-Formulierungen eine Erweiterung der Maßnahmen erreichen wollten.“
So schildern es die Polizisten: Dass ihr Bericht vor der Tat überzogen war – mit dem Ziel, Amri festzusetzen. Der Innensenator glaubt im Gegenteil, im Bericht nach der Tat hätten die beiden die stärkeren Aussagen des ersten Berichts zu Amris Drogenhandel abschwächen wollen, um zu rechtfertigen, dass er nicht verhaftet wurde. Version versus Version. Wort gegen Wort. Wer hat Recht?

Die Polizisten kritisieren, dass der Senator stur am Manipulationsvorwurf gegen sie festhalte – dabei gehe es gar nicht mehr um Amri: Bei dessen Beobachtung sei ein Kleindealer in den Blick geraten, der definitiv nichts mit der islamistischen Szene zu tun hatte, um den gehe es nun. Anwalt Bernd Römer, der Lars O. vertritt, erhebt schwere Vorwürfe: „Der Innensenator hat öffentlich Strafanzeige gegen seine eigenen Beamten gestellt. Er behauptet seither öffentlich, es werde gegen diese Beamten ermittelt, weil sie im Verdacht einer Strafvereitelung zugunsten von Anis Amri stünden und dadurch für den Anschlag mitverantwortlich sein könnten.“ Das sei falsch. Es gehe jetzt allein um eine angebliche Ermittlungsverzögerung im Verfahren gegen „diesen lange vor dem Anschlag in Haft genommenen“ Mann. In dieser Causa liege aber weder eine Verzögerung vor noch eine Aktenmanipulation.

Norbert Cioma von der Gewerkschaft der Polizei ist empört: „Die Berliner Polizeiführung hat mit ihrer katastrophalen Kommunikation im Nachgang des Anschlags dazu beigetragen, dass unsere Kollegen an den öffentlichen Pranger gestellt wurden. Es gehört zur Fürsorgepflicht eines Dienstherrn, dass er öffentlich propagierte Fehlinformationen zu Lasten seiner Mitarbeiter richtigstellt.“
Eine Sprecherin der Innenverwaltung wollte das nicht kommentieren. Zu Ermittlungen der Staatsanwaltschaft nehme man ohnehin nicht Stellung.

Pikant: Nach Informationen dieser Zeitung soll ein Staatsschutzbeamter, der Verantwortung im Fall Amri trug, einst selbst Ziel von Ermittlungen gewesen sein. Laut Erkenntnissen einer anderen Behörde soll er mit polnischen Aufputschmitteln gehandelt und Kontakte in die Rotlichtszene und zu arabischen Clans gehabt haben. Ein Polizeisprecher wollte den Vorgang nicht kommentieren. Vielleicht ist diese ebenso verhängnisvolle wie vertrackte Geschichte noch immer nicht vollends erzählt.
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