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Erinnerungen

"Nur die Opfer sind lebenslänglich gestraft"

Mölln / Eutin / tgr.

Auf den Tag genau ist es heute zwanzig Jahre her, dass der aus Eutin stammende Polizeibeamte Stefan Grage bei einer Verkehrskontrolle auf einem Parkplatz der A 24 erschossen wurde: Die damaligen Geschehnisse erschüttern die Landespolizei. Mit den Schüssen aus einer Pump-Gun setzte der Berliner Rechtsextremist Kay Diesner am 23. Februar 1997 dem Leben Grages ein Ende. Stefan Grage wurde nur 33 Jahre alt.

Es ist 9.20 Uhr an einem Sonntag, für Grage und seinen Kollegen Stefan Kussauer eigentlich ein Arbeitstag wie jeder andere: Die beiden Polizisten sind mit dem VW-Bus auf Streifenfahrt, als ihnen auf dem Parkplatz Roseburg bei Hornbek ein silberfarbener Mazda auffällt, in dem der 24-jährige Diesner schläft. Die beiden engagierten Schutzpolizisten vom Autobahnrevier Mölln erkennen, dass die Kennzeichen des Pkw schief angebracht sind und auffällig viele Bohrlöcher aufweisen. Bei einer Funkabfrage bei der Einsatzleitstelle in Ratzeburg wird bestätigt, dass die Kennzeichen als gestohlen gemeldet sind.

  • Kurz danach passiert das Unfassbare:

Auf dem Beifahrer sitzend, will Stefan Grage zusätzlich über Funk die Personalien des Fahrers überprüfen. In diesem Augenblick steht Kay Diesner plötzlich unmittelbar neben dem Streifenwagen. In den Händen hält der Gewalttäter eine „Pump-Gun“. Ohne mit der Wimper zu zucken, eröffnet er das Feuer durch die geschlossene Seitenscheibe. Stefan Grage kann gerade noch einen Funkspruch an die Einsatzleitstelle abgeben. Diesner lädt aber nochmals durch, zielt erneut auf den 33-Jährigen Polizisten und drückt ab. Kussauer erinnert sich an einen ohrenbetäubenden Lärm. Im Brust- und Nackenbereich getroffen, kippt Stefan Grage nach vorn und sackt zusammen. Der Polizist erliegt später den schweren Schussverletzungen. Der auf dem Fahrersitz befindliche Stefan Kussauer wird am Bein schwer getroffen, erleidet durch herumfliegende Splitter Verletzungen im Gesicht. Dem 31-Jährigen gelingt es trotzdem, das Fahrzeug zu verlassen. Laut Zeugenaussagen gibt Diesner einen weiteren Schuss auf Kussauer ab, der jedoch sein Ziel verfehlt. Diesen Schuss nimmt Kussauer nicht mehr wahr. Auch nicht die Schüsse, die Stefan Grage trotz seiner schweren Verletzungen noch auf Diesner abgibt. Kussauer schafft es unter schwierigsten Umständen, Hilfe zu holen. Die dramatischen Ereignisse auf dem Autobahn-Parkplatz geschehen innerhalb von nicht mal drei Minuten. Diesner flüchtet anschließend mit seinem Pkw. Bei der Verfolgung durch hinzu gekommene Einsatzkräfte zeigt sich Diesner weiter entschlossen und gewaltbereit, schießt kaltblütig und wie von Sinnen auf die ihn verfolgenden Polizeibeamten. Erst ein Unfall bei Lauenburg beendet seine Flucht. Diesner hat eine Schussverletzung am Bein davon getragen und kann nicht mehr laufen. Bei der spektakulären Festnahme stellt sich heraus, dass er eine Schutzweste trägt. Aber damit nicht genug: In seinem Auto werden Unmengen an Munition, eine Machete und ein Pitbull-Terrier gefunden. Dann wird auch bekannt, dass der junge Rechtsextremist erst vier Tage zuvor in Berlin-Marzahn ein Attentat auf den Buchhändler Klaus Baltruschat verübt hatte. Baltruschat hatte so schwere Verletzungen davon getragen, dass er seinen Arm einbüßt.
Unmittelbar nach der Ermordung ihres Sohnes, erhält Stefan Grages Mutter seelische Betreuung von Susanne Hansen, der gerade in der Landespolizei eingestellten Polizeipastorin. Hansen hält in der Eutiner Michaeliskirche auch den Gottesdienst mit Hunderten Polizisten aus ganz Deutschland ab. Unter den Trauergästen befindet sich auch die schleswig-holsteinische Ministerpräsidentin Heide Simonis und Landtagspräsident Heinz-Werner Arens.


  • Ende 1997 werden die Geschehnisse vor dem Lübecker Landgericht verhandelt. Begleitet von Susanne Hansen verfolgen die Mutter und Schwester Stefan Grages als Nebenkläger das Gerichtsverfahren. Zeitungsberichten und Gerichtsbeobachtern zufolge nutzt der Neonazi die Verhandlung, um seine wirren Gedanken vorzutragen. Für ihn seien „Staatsanwälte Folterknechte des Staates und die Bullen ihre Handlanger”. Auch den von ihm getöteten Stefan Grage bezeichnet er als „Bullen”. Der von ihm getötete Polizist zähle zu jenen, denen „in den Rücken, in den Kopf geschossen werden muss, wo man sie trifft”. Für seine Schüsse auf die beiden Autobahnpolizisten reklamiert er Notwehr, er habe sich schon seit 1990 von der Polizei verfolgt gefühlt. Der Angeklagte habe sich an den Verhandlungstagen die meiste Zeit gelassen bis gelangweilt gezeigt, berichtet ein Prozessbeobachter der Polizei. Auch die Mutter des Rechtsextremisten ist zugegen. Am 1. Dezember 1997 wird Kay Diesner nach 15 Verhandlungstagen zu einer lebenslangen Haftstrafe wegen Mordes und zweifachen Mordversuchs verurteilt. Das Gericht erkennt auf eine besondere Schwere der Schuld. Damit kann Diesner nicht nach 15 Jahren Haft mit einer Entlassung auf Bewährung rechnen. In seiner Urteilsbegründung hebt der Richter den „Vernichtungswillen“ des Täters hervor, mit schwersten Folgen für die Opfer. Diesner sei "eine tickende Zeitbombe für Polizeibeamte" gewesen, habe in Tötungsabsicht und "auf niedrigster Stufe stehender Gesinnung" gehandelt.
  • Ursula von Seitzberg, die Mutter Stefan Grages, muss aber zeitlebens mit der Furcht leben, dass der Mörder ihres Sohnes vorzeitig das Gefängnis verlassen könne. Sie hofft, dass Diesner wirklich lebenslang in Haft bleiben und sie nicht selbst noch sein Opfer werden würde: „Ich habe Angst vor ihm und dass er da früher rauskommt und sich irgendwie meine Anschrift verschafft”, zeigte sich von Seitzberg gegenüber Horst Winter in großer Sorge. Der Erste Polizeihauptkommissar ist seinerzeit Personalchef bei der Verkehrspolizeidirektion und steht Stefan Grages Mutter und Schwester fortan zur Seite und begleitet sie alljährlich an jedem Todestag beim Besuch des Grabes auf dem Eutiner Friedhof.
Im Jahre 2014 verstirbt Ursula von Seitzberg. „Bis zuletzt war es mir trotz vieler und langer Gespräche nicht gelungen, der tapferen alten Dame diese Angst vor der Entlassung Diesner zu nehmen“, so Horst Winter. Nur durch ihren Tod bleibt es Stefan Grages Mutter erspart, die Entlassung Kay Diesners noch zu erleben. Der verurteilte Mörder wird im Juni vergangenen Jahres nach 19-jähriger Haft entlassen. Diesner habe sich von der rechten Szene abgewandt und stelle keine Gefahr mehr dar, so die Feststellung Staatsanwaltschaft Lübeck. Über den Aufenthaltsort Kay Diesner seit seiner Entlassung ist nichts bekannt.
  • Zurück bleibt Stefan Grages Schwester. Von dem damaligen tragischen Ereignis mit dem Tod ihres geliebten Bruder hat sie sich nie erholt, leidet bis heute an den Nachwirkungen. „Das alles hat sie dermaßen umgehauen, sie ist nach wie vor beruflich und persönlich „weg vom Fenster”, weiß Horst Winter.
  • Und was ist aus dem Stefan Kussauer geworden, der den Mordversuch schwer verletzt überlebte? „Ich würde mir nichts mehr wünschen, als hätte es diesen Tag, dieses Datum, nie gegeben. Mein Leben, das meiner Familie und das von Stefans Familie ist grundlegend verändert worden“, berichtet Kussauer fast ein Jahr später nach Geschehnissen. Die Folgen für ihn seien nicht nur körperlicher Natur gewesen. Der ehemalige Polizist leidet seither an Angstzuständen, großen Konzentrationsschwierigkeiten und Vergesslichkeit. Und vor allem das Vertrauen zum Bürger sei verloren gegangen, wie Kussauer seinerzeit sagt. Seit gut zehn Jahren ist Stefan Kussauer nicht mehr im Polizeidienst und bis heute traumatisiert. Er gibt keine Interviews oder Erklärungen mehr, zu schmerzlich und aufwühlend sind die Erinnerungen. „Ich befürchte, dass sich aus seiner Sicht auch die Polizei als Organisation ihm gegenüber auch nicht immer so verhalten hat, wie es aufgrund der Schwere des Angriffs und den tragischen Folgen wohl notwendig gewesen wäre“, meint Horst Winter. Mehr will Winter nicht dazu sagen.
  • Und Horst Winter selbst? Wie hat er, der seit 20 Jahren Kontakte zur Familie von Stefan Grage und zu Kussauer persönlich hält, in der Rückschau das alles selbst erlebt? Welche Schlussfolgerungen zieht er daraus? Winter grübelt. Es gebe glücklicher Weise nur ganz wenige Fälle bei der Landespolizei mit Angriffen auf Kollegen mit solchem Ausgang, so der erfahrene Polizist. Deshalb könne die Landespolizei mit solchen Katastrophen offenbar nur schwer umgehen und sei nicht solide genug vorbereitet. „Es fehlen uns „Kümmerer“ für unsere Opfer oder deren Angehörige. Und kümmern ist mehr als die Frage, ob jemanden nach gesetzlichen Regelungen irgendetwas zusteht“, sagt Horst Winter. Damals habe ihn ein Anruf des Geschäftsführers der Gewerkschaft der Polizei (GdP) mit der Bitte erreicht, sich aufgrund seiner Vertrauensstellung bei den Betroffenen um deren Bereitschaft zu der von der GdP ins Auge gefassten Nebenklage einzusetzen. Die erheblichen Kosten für einen namhaften Rechtsanwalt hatte die Gewerkschaft organisiert: Weißer Ring, Innenminister Wienholtz und GdP teilten sich die Kosten. „Vieles war damals zu regeln“, erinnert sich der Beamte. Dazu gehörte auch die seinerzeit noch unübliche Begleitung und Betreuung der Mutter des Getöteten bei Gericht durch die Polizeipastorin aus Eutin. Die zuständige Kammer des Landgerichts habe detailliert wissen wollen, wer und warum da jemand an der Seite der Mutter Platz nehmen möchte. Das sei auch für ihn Neuland gewesen. Ebenso wie der Wunsch der Mutter, von einigen der Medienvertreter abgeschirmt zu werden. Jemand, der für all dies zuständig ist, gab und gibt es bis heute bei der Polizei nicht. So habe er diese Rolle übernommen, sei dabei aber auch nicht behindert oder gehindert worden, so Winter. Seine Erfahrungen: „Man muss in solchen Situationen ganz viel zuhören können und die Fähigkeit besitzen, Mitleid zu haben, also buchstäblich mit leiden zu können. Und Zeit. Zeit für Gespräche, für Ratschläge, viele Telefonate und Anträge, aber auch für ein paar Mut machende Worte. Das sei am Ende wohl doch eine ganze Menge. „Haben muss ich das auch nicht noch einmal“, stellt Horst Winter rückblickend fest
    Am Ende bleibt auch 20 Jahre nach den dramatischen Geschehnissen von Hornbek die Erkenntnis: Kay Diesner ist zwar verurteilt worden, aber lebenslänglich gestraft sind die Opfer Stefan Kussauer sowie Stefan Grages Mutter und Schwester. Und das ganz ohne eigene Schuld”!

      20. Todestag: Gedenktafel erinnert Stefan Grage / Hilfsfonds gegründet

      Eine Gedenkplatte auf einem Pfahl erinnert bis heute noch an den gewaltsamen Tod von Stefan Grage auf dem Rastplatz der Autobahn 24 bei Hornbek nahe Mölln. „Die damaligen Geschehnisse hätten die Landespolizei, insbesondere aber die Kollegen der betroffenen Dienstschicht, bis ins Mark getroffen und auf tragischste Weise die mit dem Polizeiberuf einhergehenden Gefahren vor Augen geführt“, sagt Torsten Jäger, Landesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei. Das Leben von Stefan Grages Angehörigen und des verletzten Streifenkollegen Stefan Kussauer sei zudem für immer schmerzhaft verändert worden, so Jäger. Als Folge der damaligen Geschehnisse wurde auf Initiative der GdP im Jahr 2001 der „Hilfs- und Unterstützungsfonds für Polizeibeschäftigte und deren Familien in Not“ ins Leben gerufen. In über 90 Fällen konnte der Fonds mit knapp 165.000 Euro im Dienst verletzten Polizistinnen und Polizisten und deren Familien zur Seite stehen. Text/Fotos(2): Thomas Gründemann

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