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Gastbeitrag von Pastor Hanns-Peter Neumann

Stand halten!

- Beauftragter für Polizeiseelsorge und Notfallseelsorge in Mecklenburg-Vorpommern -

Liebe Menschen in der Landespolizei, für uns alle heißt es nun: Stand halten! Stand zu halten in unseren Familien, im Dienst, in den gegenwärtigen und zukünftigen Belastungen. Stand zu halten in meinem Bemühen um den anderen in jedweder Form. In den Gesprächen mit Ihnen und Euch geht es seit geraumer Zeit um die Auswirkungen der Corona-Epidemie. Dabei ist es überhaupt nicht verwunderlich, dass die Sorgen und die Grade der persönlichen Betroffenheit und damit die Art des Umgangs mit der Krise unterschiedlich sind. Schließlich sind wir alle auch unterschiedliche Persönlichkeiten.

Unser Land verändert sich

Im privaten Bereich sorgt sich mancher um seine eigene Gesundheit, vor allem, wenn er oder sie zu einer Risikogruppe gehört. Andere sorgen sich um ihre Eltern oder Großeltern. Und wiederum andere versuchen, die Betreuung der Kinder in der Zeit ohne Kindergarten und Schule neben dem Dienst in der Polizei hinzubekommen. Ja, und einige von uns tragen wahrscheinlich an zwei oder mehr dieser oder anderer Sorgen.

Dazu kommen die Auswirkungen auf den Dienst als Polizist*in. Im Moment ist die Einsatzlage nach Auskunft vieler noch relativ ruhig. Viele belastet aber die Frage, wie sich die Lage entwickeln wird, wenn die massiven Einschränkungen des öffentlichen Lebens länger andauern. Wird es zu einer spürbaren Häufung häuslicher Gewalt kommen? Was macht es mit einem Polizisten, wenn er eingesetzt wird, um Angehörige am Abschiednehmen von einem sterbenden Familienmitglied zu hindern, wie es in Italien schon geschieht? Wird der breite Konsens hinsichtlich der Notwendigkeit beschlossener Maßnahmen halten, wenn die Kurve der Neuinfektionen abgeflacht ist? Welche Gegebenheiten rechtfertigen die Beschneidung von Grundrechten – eine sozialethische Frage, die eventuell, nämlich wenn der Konsens brüchig wird, auch auf dem Rücken der Polizei ausgetragen wird. Einen kleinen Vorgeschmack bekommen wir als touristisch bedeutsames Bundesland ja gerade mit der Frage der Nutzung von Zweitwohnungen.

Auf der anderen Seite begegnet mir ein Erschrecken über ein Verhalten, was ein Kollege als „Denunziantentum“ bezeichnete. Sicher ist den Regeln und Gesetzen zur Bekämpfung der Epidemie Folge zu leisten, in unser aller Interesse. Aber manche spüren in diesem Zusammenhang Untertöne, die sie erschaudern lassen. Da sind Steine, die auf Usedom gegen Autos mit auswärtigen Kennzeichen geworfen werden, dann nur die Spitze des Eisbergs.

Für viele war die Umstellung auf die 12-Stunden-Schichten problematisch. Familien mussten sich neu organisieren. Doch höre ich nun, dass die meisten sich mit der neuen Situation arrangiert hätten. Es ist schön zu hören, dass versucht wird, Kolleg*innen, denen dies alles nicht so einfach fällt, zu entlasten. Eine Sonderrolle in puncto Dienstplanung spielt die Bereitschaftspolizei. Durch die sich immer wieder verändernden Einsatzlagen ist bei diesen Kolleg*innen ein besonders hohes Maß an Flexibilität gefordert.

Ich denke, wir sind gut aufgestellt in dieser außergewöhnlichen Situation. Nun gilt es, vor der Lage zu bleiben. Die Motivation innerhalb unserer Landepolizei ist nach meinen Einblicken hoch. Die Zahl der Krankschreibungen ist niedrig, ein Revierleiter sprach von „Feuereifer“ bei dem einen oder anderen, sodass es immer wieder sogar nötig wird, an den Eigenschutz zu erinnern. Möge aus dem „Feuereifer“ kein „Übereifer“ werden.

Unser Land verändert sich. Unsere Kommunikationsformen verändern sich. Die Formen, Gemeinschaft zu leben, verändern sich. Aber ich mache auch die Erfahrung, dass dadurch nicht die Gemeinschaft schwindet. Zu den vielen Begriffen, die wir seit zwei Monaten kennenlernen, gehört das „social distancing“. Ich halte ihn für einen irreführenden und deshalb ungeeigneten Begriff. Er beschreibt die während einer Epidemie notwendige „körperliche“ Distanz, die aber etwas ganz anderes ist als eine „soziale“ Distanz. Denn gerade in diesem Bereich des „Sozialen“ gehen wir in diesen Zeiten nicht auf Distanz. Es ist eine schöne Erfahrung zu sehen, wie kreativ Menschen in so belasteten Zeiten werden um anderen beizustehen. Da wird die gute alte Nachbarschaftshilfe wieder aktiviert, die Tafeln für Bedürftige liefern Pakete mit Lebensmitteln an ihre Kunden aus, in Altenheimen werden die Bewohner*innen vor einen Laptop gesetzt und können mit ihren Angehörigen, die sie nicht besuchen dürfen, ein Videogespräch führen.

Natürlich gibt es auch das andere, die Schattenseiten einer solchen Krise. So wie sich die positiven Ansätze in Menschen in Krisenzeiten verstärken und sich „ausleben“, so verstärken sich leider in anderen auch die negativen Eigenschaften. Über die Hamsterkäufe von Toilettenpapier können wir nur den Kopf schütteln und Witze machen. Ich sah Menschen den Bedarf eines halben Jahres ins Auto stopfen. Aber sie sind zum Symbol für den Egoismus in der Krise geworden. Ja, den gibt es. Aber er hat nicht die Oberhand.

Das chinesische Schriftzeichen für Krise besteht aus zwei Teilen: der eine symbolisiert Gefahr oder Risiko, der andere Chance. Viel Weisheit sehe ich darin. Das Coronavirus stellt eine große Gefahr da, für viele geht es um Leben und Tod. Aber die Krise trägt auch eine Chance in sich. Zum Beispiel die Chance der Besinnung auf gemeinsame Werte wie den eines Menschenlebens, unabhängig von Alter, Stand oder Herkunft. Oder die Chance zu erleben, was uns als Gesellschaft, als Gemeinschaft trägt. Oder die Chance zum Nachdenken über das wirklich Wesentliche in meinem Leben. Die Chance, achtsamer und dankbarer zu leben. Ja auch die Chance zu erkennen, was mich persönlich trägt und mir Halt gibt in einem finstern Tal. Unser Land verändert sich – zum Glück, oder ich wage zu sagen: Gott sei Dank nicht nur zum Schlechten.

Für uns alle heißt es nun: Stand halten! Und dabei kam mir ein relativ neuer Sport in den Sinn, dessen Reiz ich als begeisterter Kajakfahrer nicht ganz begreifen kann, der mir aber als Bild für uns hilft: Das Stehpaddeln. Auf schwankendem Board erobern ambitionierte Einzelkämpfer oder Gruppen die Gewässer, vor allem aber die Herrschaft über ihr wackliges Gefährt. Wenn man ihnen so zuschaut, meint man, ihr Hauptanliegen dabei wäre, oben und trocken zu bleiben. Nicht unbedingt. „Niemals das Paddel verlieren“ soll hier der wichtigste Merksatz sein. Das Paddel bringt einen vorwärts, lässt einen Kurs halten und die Balance.


Ein bedenkenswerter Grundsatz in Corona-Zeiten, nicht nur für die Polizei. Alles scheint im Fluss. Wir müssen uns behaupten. „Was bringt mich dabei voran?“ „Was ist mein Kurs und wer hilft mir, ihn zu halten?“ Weiß Gott keine einfachen Fragen. An den Antworten hängt nicht zuletzt das eigene Gleichgewicht, die innere Balance, dienstlich wie privat.

Ich wünsche Ihnen und Euch, dass das Wirklichkeit ist und auch in den kommenden Wochen bleibt, was Elton John in einem seiner bekanntesten Songs vertont hat: „I´m still standing, yeah, yeah, yeah“.

Ich wünsche Ihnen und Euch und Euren Familien für die kommende Zeit Gesundheit, Besonnenheit und eine in allem gesegnete Osterzeit!


Hanns-Peter Neumann (ev. Polizeiseelsorger)


Übrigens: Die Polizeiseelsorge ist nicht im „Homeoffice“, sondern an Eurer Seite, gerade jetzt.
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Kontaktdaten
Pastor Hanns-Peter Neumann
Beauftragter für Polizeiseelsorge und Notfallseelsorge in Mecklenburg-Vorpommern
Polizeiinspektion Stralsund, Frankendamm 21, 18439 Stralsund
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