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Digitale Assistenten

Die nächste Generation der Vorgangsbearbeitung

Foto: blackboard/stock.adobe.com
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Hannover/Berlin.

DP-Autor Oliver Stock erläutert, warum und wie innovative digitale Assistenten die polizeiliche Arbeit verändern – die Vorgangsbearbeitung der nächsten Generation.

Von moderner Softwareentwicklung und -nutzung ist man in P20 gegenwärtig indes weit entfernt

jijomathai/stock.adobe.com
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Nach der Zielsetzung der „Saarbrücker Agenda" vom 30. November 2016 zur Schaffung einer „gemeinsamen, modernen und einheitlichen Informationsarchitektur soll jede Polizistin und jeder Polizist nach Maßgabe der rechtlichen Rahmenbedingungen jederzeit und überall Zugriff auf diejenigen Informationen erhalten, die für die Aufgabenerfüllung erforderlich sind“. Das ist eine absolut nachvollziehbare Perspektive, denn die siloartigen und in der Regel nicht kompatiblen Bestandslösungen der Teilnehmenden im Programm Polizei 20/20 (P20) genügen den Herausforderungen an eine moderne und leistungsfähige IT-Struktur der Sicherheitsbehörden schon länger nicht mehr. Nach rund fünf Jahren sind jedoch bislang kaum spürbare Verbesserungen für die Kolleginnen und Kollegen festzustellen.

Dabei führten die vor 21 Jahren von einer Gruppe von Software-Entwicklern verfassten Verhaltensprinzipen und Regeln des sogenannten agilen Manifestes zu einem deutlichen Perspektivwechsel bei der Entwicklung von Softwarelösungen. Dessen Werteprinzipien und Thesen stehen für eine heute in vielen Unternehmen standardmäßig adaptierte, bessere und individuellere Softwareentwicklung.

Von moderner Softwareentwicklung und -nutzung ist man in P20 gegenwärtig indes weit entfernt. Warum? Schwierige Abstimmungsprozesse unter den Teilnehmenden sowie langwierige Basisarbeiten bei der Vorbereitung neuer gemeinsamer digitaler Werkzeuge beanspruchen sehr viel, ja sogar zu viel Zeit.


Falsche Weichenstellung
Entgegen der sich bereits damals abzeichnenden digitalen Herausforderungen, wurden in den vergangenen Jahrzehnten in den meisten Polizeien hierzulande polizeiinterne Softwareentwicklerinnen und -entwickler sowie IT-Expertinnen und IT-Experten stark reduziert. Insbesondere bei der Bürokommunikation oder auch in der Digitalforensik setzte man auf Standardprodukte der Softwareindustrie. Fachspezifische Polizei-IT wurde weder innovativ noch konsequent weiterentwickelt. Das Ergebnis: Die Polizei steht heute der Dynamik der rasanten Digitalisierung aller Arbeitsbereiche ohne ausreichendes IT-Know-how gegenüber – ein klarer Nachteil für die digitale Transformation.

Eine weitere Hürde: Digitalisierung bedeutet offenbar noch vielfach, bisherige analoge Abläufe digital nachzubauen. Stattdessen sollten Prozesse neu, mit moderner Technologie, übergreifend durchdacht und frisch modelliert werden. Um dies bei den Strafverfolgungsbehörden Wirklichkeit werden zu lassen, braucht es jedoch ein grundlegend verändertes Verständnis für den Einsatz moderner Technologien wie Cloud-Computing, Data-Analytics, Künstliche Intelligenz, digitale Assistenz, Social-Media-Anwendungen und die Ausstattung mit mobilen Endgeräten. Und in der Aus- und Fortbildung oder an Tatorten wird zudem der Einsatz von Augmented Reality (AR) oder Virtual Reality (VR) immer bedeutsamer. Digital werden heißt, die Technologien mit neuen kreativen und möglichst übergreifenden Prozessmodellen zu kombinieren.

Der Anfang Juli 2022 vorgelegte Entwurf einer Digitalstrategie der Bundesregierung kann damit kaum aufwarten, eine digitale Strategie der Polizei findet dort im Übrigen noch nicht einmal Erwähnung.


Mehrwerte erzeugen
Die GdP hat in ihrem Positionspapier das Thema „Digitale Assistenten“ gleich mehrfach aufgegriffen. Diese digitalen Kollegen verfügen über ein herausragendes Potenzial zur Unterstützung ihrer analogen Gegenüber. Darüber hinaus bieten praxisnahe Assistenten eine deutliche Arbeitserleichterung gegenüber einem vergleichsweise starren Vorgangsbearbeitungssystem. Dazu heißt es:
„Die künftige Vorgangsbearbeitung ist modular und als „Drehscheibe“ der polizeilich bewerteten Informationen zu konzipieren. Mit dem Fachverfahren müssen grundsätzlich alle Vorgangsarten bearbeitet werden können, insbesondere sind offene Schnittstellen für Assistenzprozesse im Sinne einer Vorgangsbearbeitung der nächsten Generation zu gewährleisten. Hierfür ist der Bereich Innovation im Programm Polizei 20/20 zu stärken.“

Wir alle sind den Umgang mit digitalen Assistenten aus Abläufen beim Online-Einkauf oder dem Online-Banking gewohnt. Diese Anwendungen sind für die Nutzerinnen und Nutzer nicht sonderlich kompliziert, auch wenn im Hintergrund sehr umfassende Datenanalysen bei den Anbietern durchgeführt werden. Für den Nutzer anspruchsvoller ist dagegen schon die beim Steuerportal Elster assistierte Steuererklärung. Polizeiliche Arbeitsprozesse sind häufig noch vielschichtiger. Sie müssen zudem mit komplexen analytischen Servicefunktionen ausgestattet sein, um Nutzer-Mehrwerte zu erzeugen.

Erste digitale Assistenten befinden sich bereits bei mehreren Polizeien im Einsatz, zum Beispiel die Fahndungs-App der Bundespolizei oder die digitale Unterstützung der mobilen Aufnahme von Verkehrsunfällen, Straftaten oder anderen polizeilichen Ereignissen in Rheinland-Pfalz und dem Saarland.

In der Polizei Niedersachsen wurde ebenfalls ein erster digitaler Assistent entwickelt, der „Cyberguide“. Anlass für dessen Aufbau waren zahlreiche Unzulänglichkeiten bei der Aufnahme von Strafanzeigen bei Internetkriminalität. Fehlerhafte Anzeigenaufnahmen aufgrund der Vielfalt von Delikten, dynamischer Tatbegehungsweisen oder der fehlenden Erkennbarkeit von Tathandlungen in der virtuellen Welt führen bis heute zu einem kaum noch zu bewältigenden Mehraufwand bei der späteren Sachbearbeitung. Mit dem entwickelten System konnten im Cyberguide Fach-, Prozess- und Organisationswissen in einem intelligenten Anzeigeassistenten vereint werden.


Zeitgemäße Unterstützung
Während digitale Assistenten überwiegend für den jeweiligen Anwendungsfall speziell programmiert werden müssen, setzt die Polizei Niedersachsen auf eine Technologie nach dem Systembaukasten-Prinzip auf Basis des Standards „Business Process Management and Notation (BPMN 2.0)“. Das Arbeitswerkzeug für die Entwicklung und Pflege der Assistenten sind Prozessmodelle, die mit den verfügbaren Modellbausteinen (Prozesselementen) erstellt werden. Die eingesetzte BPMN-Software erlaubt die Modellierung zahlreicher unterschiedlicher Assistenten für diverse polizeiliche Arbeitsfelder.

Schon bei der Suche nach geeigneten Softwaretools war den Entwicklern klar, dass sich der Mehrwert digitaler Assistenz nicht auf die Bearbeitung von Cybercrime-Anzeigen beschränken würde. Auch in zahlreichen weiteren Bereichen muss teils sehr spezielles Wissen direkt in die Arbeitsprozesse der Kolleginnen und Kollegen einfließen. Fortbildung allein reicht da nicht mehr.
Und die Optionen sind vielfältig: im Staatsschutz mit einem „Staatsschutz-Guide“, bei der Vermögensabschöpfung mit einem „Finanz-Guide“, bei der Unfall- oder Tatortaufnahme mit einem „Aufnahme-Guide“ oder spezialisierte Kontrollassistenten.

Der Assistent stellt den Anwendenden die richtigen Fragen, ordnet daraufhin die Antworten, erstellt Dokumente und überführt die erforderlichen Informationen in das polizeiliche Vorgangsbearbeitungssystem. Skizziert man eine digitale Bearbeitungsstraße über mehrere Arbeitsbereiche hinweg, so könnten verschiedenste Akteure mit digitalen Assistenten bereichsübergreifend gemeinsam arbeiten und kommunizieren.

Künftig würden Bürgerinnen und Bürger die Anzeige direkt in einem intelligenten digitalen Assistenten erstatten. Die Polizei kann diese Informationen unmittelbar weiterverarbeiten und dabei weitere unterstützende Assistenzfunktionen nutzen. Informationen fließen dabei zurück an die Anzeigenden wie an Staatsanwaltschaften sowie in die jeweiligen IT-Systeme der Polizei.

Der erste seiner Art

Putilov_denis/stock.adobe.com
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Um eine möglichst offene Systemstruktur zu schaffen, wurde zunächst das Grundsystem für die Entwicklung digitaler Assistenten und anschließend der Prototyp des Cyberguide entwickelt. Die Komplexität von Anzeigenaufnahmen bei Cybercrime-Delikten boten sich an, weil in der Praxis häufig zahlreiche Bearbeitungsschritte wie Sofortmaßnahmen zur Sicherung von Finanzflüssen oder andere flüchtige Daten nicht erkannt und in der Folge auch nicht rechtzeitig umgesetzt werden. Dies führt bei der späteren Bearbeitung zu aufwändigen Nachermittlungen, die bei Geschädigten nicht unbedingt den Eindruck professioneller Bearbeitung hinterlassen.

Die Informationsmodelle des Cyberguide wurden mit einer auf die polizeilichen Anforderungen angepassten BPMN-Software von erfahrenen Fachpraktikerinnen und Fachpraktikern modelliert und nach Freigabe automatisiert in der Guide-App bereitgestellt. Damit entfällt die jeweilige Einzelprogrammierung jedes Modells. Die mit Praktikern besetzten Modellierungsteams können ihre Modelle somit schnell und effizient selbst entwickeln und noch schneller anpassen. Für künftige Assistenten bräuchte es also keine Programmierer mehr, sondern modellierende Fachteams, die von einer zentralen Redaktion eingewiesen und unterstützt würden. Allein der Cyberguide verfügt in Niedersachsen über 20 Modellierungsteams für diverse Cybercrime-Modelle. Daran wird mit großem Engagement gearbeitet, was die hohe Akzeptanz und die vielen positiven Rückmeldungen bestätigen.


So funktioniert es
Der niedersächsische Cyberguide steht seit Juni 2022 jeder Dienststelle zur Verfügung. Er arbeitet nicht nur mit Frage- und Antwortlisten, sondern schlägt auch sachverhaltsbezogene Individualtexte vor. Er liefert beispielsweise bereits nach dem ersten Fragen-Antwort-Durchlauf einen Zeugenfragebogen mit ermittlungsrelevanten Fakten und leitet den Nutzer damit thematisch auf die ergänzenden deliktsspezifischen Fragen hin. Der Assistent entwickelt seine Ergebnisse aus Informationen, die zuvor von Modellierungsteams als sachverhaltsrelevant im Prozessmodell hinterlegt wurden. Die Anwender ergänzen diese Ergebnisse während des Prozessdurchlaufs durch Individualeingaben sowie durch die vom System im Hintergrund automatisiert ausgelösten Servicedienste.

Sämtliche Ergebnisvorschläge werden im Hintergrund durch das sequenzielle Einsammeln sogenannter BPMN-Textbausteinelemente auf den jeweils genutzten Prozesspfaden zusammengestellt.
Durch die offenen Gestaltungsmöglichkeiten konnten im Assistenten zahlreiche weitere Fachthemen implementiert werden, zum Beispiel Statistik, Analysen, Prävention oder Belange des Datenschutzes.

Eine wesentliche Voraussetzung für die Akzeptanz war jedoch die automatische Überführung der erfassten und sortierten Informationen in das Vorgangssystem der Polizei. Dieses gewährleistet eine Schnittstelle.

So können sich die Produkte des Assistenten heute bereits sehen lassen: Eine korrekte Deliktseinstufung, die dazugehörigen Daten zur Polizeilichen Kriminalstatistik, ein Ergebnisdokument zum Sachverhalt mit Präventionshinweisen für die Anzeigenden, ein Ergebnisdokument mit Hinweisen für die Sachbearbeitung und die Unterstützung durch automatische Generierung des Zeugenfragebogen mit dem bereits erwähnten Einleitungstext.


Funktionen folgen
Darüber hinaus werden künftig weitere Textbausteinoptionen möglich sein, so für Berichtsentwürfe oder Ereignislagemeldungen.

Bekanntermaßen ist auch die Bestimmung des Tatorts essenziell für das Festlegen der Zuständigkeitsregelungen von Polizei und Staatsanwaltschaft. Eine eindeutige Zuweisung anhand der deliktischen Einstufung und der Tatortbestimmung erlaubt es, teils sehr kräftezehrende Zuständigkeitsklärungen zu vermeiden. Hierfür wurde bereits der erste Schritt zur Automatisierung vollzogen. Dafür wird der Handlungsort beziehungsweise der Ort des Schadenseintritts und das Bearbeitungszuweisungsraster der Polizei Niedersachsen genutzt. Daneben gibt es im täglichen Dienst bei der Bestimmung der polizeilichen Zuständigkeit weitere zu berücksichtigende Faktoren, darunter bundesweite oder regionale Sonderregelungen sowie temporäre Zuständigkeiten aufgrund eines bestimmten Modus Operandi.

In der aktuellen Ausbaustufe kann der Cyberguide lediglich die „statischen“ Informationen entsprechend des Zuständigkeitsrasters zuordnen, eine Zuständigkeitsanalyse mit „dynamischer“ Berücksichtigung von Sonderregelungen ist eine noch zu lösende Herausforderung.


Ohne Assistenten droht Bearbeitungsinfarkt
Die zunehmende Spezialität und damit verbundene Komplexität polizeilicher Arbeitsprozesse führen heute zu starken Verunsicherungen bei ungeübten Arbeitsabläufen und in der Folge zu teilweise erheblichen Qualitätseinbußen durch Mängel in der Bearbeitung. Aufgrund immer komplizierterer Sachverhalte unter Beachtung zunehmend dezidierterer gesetzlicher Regelungen und internen Arbeitsanweisungen stehen die Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter in zahlreichen Bereichen bereits ohne zeitaufwendige Nachermittlungen unter großem Arbeitsdruck. Die bestehenden Bearbeitungssysteme bieten dabei kaum große Unterstützung.

Mit intelligenten Assistenten können dagegen in komplexen Fachprozessen sowohl erforderliches Nutzerwissen als auch implizites Prozess- und Organisationswissen miteinander verknüpfen werden. Im Ergebnis werden Bearbeitungsabläufe schneller und qualitativ besser. Damit haben digitale Assistenten auch in der Polizei das Potenzial, mit ihren Modellen über fachliche Silos hinweg zu einem Kernelement der Digitalisierung und damit zur Vorgangsbearbeitung der nächsten Generation zu werden.

Zum Download: GdP-Positionspapier „Digitalisierung in der Polizei – Ansprüche und Anforderungen für eine moderne, leistungsstarke und zukunftsfähige Polizei“

titima157/stock.adobe.com
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Die IT-Kommission der Gewerkschaft der Polizei (GdP) hatte die polizeilich bedeutsamen Digitalthemen über zwei Jahre diskutiert und einen umfassenden Forderungskatalog für die digitale Transformation der Polizei erarbeitet.

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DP-Autor Oliver Stock ist vom Landesbezirk Niedersachsen entsandtes Mitglied der IT-Kommission der GdP Bund. Als Referent für Cybercrime sowie Finanzkriminalität arbeitet er im niedersächsischen Innenministerium und begleitet verschiedene digitale Projekte der Landespolizei.
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